Juli N57 - Sammeln
Andrea Voellmin und Anina Schenker über die Freuden und Leiden des Dokumentierens
Andrea Voellmin, Sie sind Leiterin des Staatsarchiv Aargau. An wen richten sich Ihre archivarischen Dienstleistungen?
Andrea Voellmin Die Aufgabe eines Staatsarchivs ist es, die Entwicklungen eines Kantons zu dokumentieren. Alle amtlichen Stellen und Behörden stellen uns diejenigen Akten zur Verfügung, die sie nicht mehr brauchen. Wir beurteilen daraufhin, ob sie «archivwürdig» im Hinblick auf historische Auswertungen sind. Das Hauptanliegen ist dabei die Nachvollziehbarkeit dessen, was der Staat gemacht hat. Regierungsbeschlüsse sind ein Kernbestand jeden Staatsarchivs. Daneben haben wir auch grafische, Foto- oder Familienwappen-Sammlungen und Archive privater Herkunft. Unsere Besucher setzen sich zusammen aus Schülern, Studenten, , freien Forschenden sowie Familienforschern und Betroffenen (z.B. fremdplatzierte Kinder), die ihrer ureigenen Familiengeschichte nachgehen.
Anina Schenker, Sie sind Geschäftsführerin und Gründungsmitglied von Kunstunion des Vereins zur Dokumentation von Kunst. Weshalb braucht es einen solchen Verein?
Anina Schenker Unser Anliegen ist es, Kunstschaffende bei der Dokumentation ihrer Arbeiten zu unterstützen. Für viele zählt das Festhalten von Werkangaben zum ungeliebten Bereich der Administration; man schiebt es vor sich hin, verlegt Unterlagen oder stellt sie gar nicht erst her. Dabei geht unheimlich viel Wissen verloren. Am meisten kommt dieses Manko bei Nachlassen zu tragen. Ich musste einmal den Nachlass einer Freundin aufarbeiten. Dabei ist mir klar geworden, dass man einer Person unheimlich nahe stehen kann und trotzdem nur die Hälfte ihres Schaffens mitbekommt. Wir fanden zum Beispiel zwölf verschiedene Versionen einer digitalen Collage, die alle mit FINAL angeschrieben waren. Nur die Urheberin selbst kennt das Original.
Nun habt ihr mit kleio ein Tool geschaffen, das diesem Problem Abhilfe leisten soll.
Anina Schenker Eigentlich ist man als Kunstschaffende ja ständig daran, Dokumentationen für Wettbewerbe oder Stipendien herzustellen. Man fängt aber immer wieder von vorne an, weil im Hintergrund keine klare Struktur besteht. Mit kleio unserer Archiv-App muss ein Werk nur einmalig erfasst werden, danach steht es für die unterschiedlichsten Anwendungen zur Verfügung. Ich kann per Knopfdruck ein Portfolio generieren, Bilddaten versenden, eine Auswahl als Website anzeigen oder meine Bilder in sozialen Netzwerken teilen. Wir versuchen mit kleio ein ganz simples Tool zu liefern, welches Daten an einem Ort zentral speichert, auf allen Geräten funktioniert und somit immer griffbereit ist.
Andrea Voellmin Ich finde das super! Der Dokumentationsaufwand ist nämlich gar nicht so gross, wenn eine Systematik vorhanden ist. Die elektronische Datenverarbeitung bringt da grosseVorteile. Früher haben Archive mit Verzeichnissen oder Listen gearbeitet. Eine Liste dokumentiert aber immer nur eine Sicht oder Ordnung. Das Geniale an einer Datenbank ist, dass sie eine Informationsmaschine ist. Sie kann in einer riesigen Datenmenge gezielt nach Informationen suchen und Verbindungen herstellen. Man muss die Daten einmal eingeben und kann sie mehrfach nutzen und vernetzen. Das ist ein Quantensprung.
Anina Schenker Ich teile Ihre Begeisterung – und das geht allen so, die den Initialaufwand einmal gemeistert haben. Wir müssen jedoch noch viel Aufklärungsarbeit betreiben. Der Genius des Schöpferisch-Seins ist bei Kunstschaffenden stark verbreitet: Ich male, schreibe, performe, und irgendwann kümmert sich dann jemand um mein Werk. Unsere Haltung ist hier: Es wird sich niemand für dein Werk interessieren, wenn du es nicht selbst tust. Wir hoffen auf einen Wandel, auf Erkenntnis. Auf kleio.com kann in den sichtbaren Archiven gestöbert werden. Hier sind kuratierte online Ausstellungen und spannende Netzwerkfunktionen geplant.
Unser Ziel ist es, eine Ergänzung zu regionalen Plattformen und zum SIKART mit 16'000 Einträgen zur Kunst in der Schweiz zu bieten. Ein Grossteil der Einträge betrifft verstorbene Kunstschaffende. Unser Wunsch ist es, den zeitgenössischen Bestand zu ergänzen, nicht aus historischer Perspektive, sondern direkt aus der Produktion heraus. Wir wollen 5000 NutzerInnen für kleio gewinnen.
Andrea Voellmin Ihre Enttäuschung über die Aufklärungsarbeit, die Sie betreiben müssen, kenne ich gut. Auch wir haben ein verstaubtes Image, dabei steckt in unserem Material ganz viel Leben, es ist das Ergebnis von vielen Prozessen! In den elf Kilometern Akten in unserem Archiv stehen die Geschichten unzähliger Menschen. Wir mögen uns zwar schwer damit tun, aus der Geschichte zu lernen, aber wir bewegen uns in ihr, in den Entscheidungen, die früher getroffen wurden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Sondermülldeponie in Kölliken. Nie wurde dokumentiert, was dort alles eingelagert wurde. Heute graben wir die Schadstoffe für viele Millionen Schweizer Franken wieder aus. Wie beim Recycling sprechen wir auch bei Dokumenten von einem Lebenszyklus: Man tut gut daran, sich schon bei der Erstellung zu überlegen, was am Ende damit geschieht. Ich hätte nie gedacht, wieviel es braucht, die Leute dafür zu sensibilisieren. Die unterschiedlichen Organisationseinheiten der kantonalen Verwaltung denken in ihrer operativen Tätigkeit kaum ans Archiv, sondern an die Aufgaben, die sie zu erledigen haben. Die vorarchivarische Zusammenarbeit mit den Verwaltungsstellen ist deshalb sehr wichtig für uns.
Der Aargauer Regierungsrat hat die Einführung einer IT-Lösung zur langfristigen Archivierung von elektronischen Daten aus Kostengründen gestoppt. Welche Konsequenzen hat dies für die Arbeit des Staatsarchivs?
Andrea Voellmin Dieses System war für die Strukturierung und Steuerung von Daten gedacht und hätte in allen Verwaltungseinheiten eingesetzt werden können. Eine einheitliche Hinterlegung mit Metadaten – also Angaben, die ein Dokument beschreiben – hätte eine automatisierte Übernahme ins Archiv ermöglicht, was die Auswahl und spätere Suche nach bestimmten Dokumenten vereinfacht. Nun arbeiten wir mit vorläufigen Strukturen. Die Sicherung findet auf operativen, heute günstigen Speichermedien statt, aber es fehlt noch die Infrastruktur und Bewirtschaftung eines digitalen Langzeitarchives. Dieses Thema beschäftigt weltweit die Archive – und immer mehr Leute, die digitale Daten langfristig speichern möchten. Die Hoffnung ist, dass immer mehr Leute an Lösungen arbeiten, so dass die Preise irgendwann sinken.
Auch bei kleio werden Sie es bei 5000 NutzerInnen mit einer riesigen Datenmenge zu tun haben. Wie stellen Sie deren langfristige Speicherung sicher?
Anina Schenker Wir haben unser System so anleget, dass es mit uns wächst. Wir haben keine In-House-Server, sondern arbeiten mit Host-Server-Firmen zusammen. Textmaterial wird auf einem Server in der Schweiz gespeichert, Bilder hingegen dort, wo sie auch genutzt werden. Wenn eine Künstlerin also in Shanghai lebt, werden ihre Bilddateien auch dort gelagert. Viele Kunstschaffende wissen heute nicht mehr, wohin mit ihren Daten. Es gibt so viele Speichermöglichkeiten: Harddisks, externe Festplatten, iCloud, Google, ... Bei uns können sie alle Originaldateien an einem Ort versammeln, eine Limite bezüglich Datenvolumen gibt es nicht.
Andrea Voellmin Eine weitere Herausforderung in Bezug auf die langfristige Speicherung von Daten ist die Sicherstellung ihrer maschinellen Lesbarkeit. Selbst wenn alles mehrfach gespeichert ist, bleibt die Gefahr eines Big Bang bestehen. Das Imaging & Media lab der Universität Basel hat deshalb ein Vorgehen zur Speicherung von digitalen Daten auf analogen Mikrofilmen entwickelt. Mikrofilme überleben bei guter Konservierung ca. 500 Jahre. Wenn die Elektronik abstürzt, kann aus dem analogen wieder digitales Material produziert werden. Den Kernbestand der Regierungsbeschlüsse sichern wir heute in dem die Dokumente digitalisiert und als analog lesbare Bilder auf Mikrofilm übertragen werden. Bei einem Verlust der Originale kann auf die Digitalisate oder die Mikrofilme zurückgegriffen werden.
Gibt es genügend Fachleute, die dem rasanten digitalen Wandel im Bereich der Archivierung gewachsen sind?
Anina Schenker Der digitale Wandel setzt neue Formen der Zusammenarbeit in Bewegung. Unser Verein arbeitet auf technischer Ebene mit Top-Shots des Open Source-Marktes zusammen. Unsere Programmierer sitzen auf der ganzen Welt, wir treffen uns im virtuellen Arbeitszimmer. Die Open Source-Community pflegt einen regen Austausch, niemand setzt nur auf ein Hirn. Jeder arbeitet im Bewusstsein, alleine kein Programm schreiben zu können. So ist es heute in allen Bereichen, allwissende Fachpersonen sind seltener.
Andrea Voellmin Den globalisierten Ansatz, den sie beschreiben, verfolgen die Archive mit dem Online-Stellen ihrer Inventare. 16 Staatsarchive haben sich inzwischen dem Schweizer Archiv-Portal Archives Online angeschlossen. Der Kanton Aargau war einst Teil des Habsburger Reiches – online kann man diese historischen Verbindungen über die Kantonsgrenzen hinweg wieder herstellen. Diese Art von Sichtbarkeit durch Vernetzung ist ein unglaublicher Gewinn. Gleichzeitig sind die öffentlichen Archive nicht mehr die einzigen Pfeiler der Dokumentation. Online gibt es heute ganz viele Orte, wo Dinge aufbewahrt werden. Als Gesellschaft speichern wir mehr Wissen – insbesondere auch aus dem Alltagsleben –, als es in staatlichen Archiven je möglich war.
Andrea Voellmin ist Leiterin des Staatsarchiv Aargau.
Anina Schenker ist Geschäftsführerin des Vereins Kunstunion und bildende Künstlerin.