Verein kleioforum

DUALIST «Die Wünsche sind schon Erinnerungen»

2021

«Die Wünsche sind schon Erinnerungen»

aus Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, 1972
Wir erinnern uns, dass Zürich am Pfauen ein spezielles Kunsthaus hat, das schon damals im 18. Jahrhundert als Einmaligkeit von Künstlerinnen und Kunstlieb­ habern, als Clubhaus gegründet wurde und dann mit der Zeit zum heutigen Kunsthaus Zürich heranwuchs.
Ein kooperatives Kunstprojekt, das Wissen und Potenziale rund um Werkverzeichnisse als Befähi­ gungsvehikel erkannt, thematisiert und selber ein einzigartiges Online­Werkzeug als stärkende Mass­ nahme für Künstler
innen anbietet, ist kleio. Oder anders gesagt, die Muse der Geschichtsschreibung, die mit «The Living Catalog» einen partizipativen Zugang zur aktuell sich schreibenden Geschichte bietet.
Als erster Schritt in Richtung «Kunsthaus» bildet kleio als «The Living Catalog» alle Werkverzeichnisse als Plattform ab.
Zugrunde liegt diesem Angebot das Wissen, dass erfasste und gepflegte Werkverzeichnisse die Künstler*innen stärken, sichtbar machen und befähi­ gen, professionell am Kunstbetrieb und am Markt teilzuhaben.
kleio ist ein Spagat zwischen Innen und Aussen, zwischen individueller und kollektiver Befähigung. Zwischen Coach und Muse.

Wie entsteht Geschichte?
Die künstlerische Arbeit von Anina Schenker – der Begründerin von kleio – beschäftigt sich transmedial mit Fragen um Phänomene und einem vermutbaren «Dahinter». Abwesende Präsenzen faszinieren:
Das «Unsichtbare» ist ein Prozess, der sich zwischen uns und dem uns umgebenden Raum ereignet. Mit Innen­ und Aussenseiten.
Aus diesem biographischen Prozess entstand auch die Beschäftigung mit diversen Ansammlungen, Sammlungen der Kunst und des Wissens, mit Archiven. Was zuerst ein Geldjob war, rückte weiter in den Fokus ihrer künstlerischen Tätigkeit.
Inspiriert von den inhaltlichen Zusammenhängen, welche durch eine systematische Erfassung und Zusammenstellung von Vorhandenem offengelegt werden konnten, entwickelte sie ab 2004 ein digitales Instrument, welches ihre eigenen künstlerischen Arbeiten in Bezug zueinander stellen konnte. 2008 gründete Anina Schenker die Firma beryll.me als künstlerisches Projekt.
Seit sechs Jahren ermöglicht ihr Tool kleio.com Zugänge im Bereich der Kunst. kleio und der daraus abgeleitete «The Living Catalog» begleiten künst­ lerische Prozesse und setzen grundlegend auf die demo­ kratische «Selbstbefähigung» der User*innen und
auf Chancen in Kunstbetrieb und Markt durch sorg­ fältigen Umgang mit Werken und der konstanten Erfassung zu einem zukunftstauglichen Werkverzeich­ nis als «lebendige Materie».

Der Beryll ist geologisch ein Silikat-Mineral aus der Klasse der Ringsilikate, wie z. B. blauer Aquamarin oder grüner Smaragd. Im Mittel- alter galt beryllus (lat.) als Oberbegriff für
alle klaren Kristalle. Aus Beryll wurden die ersten Linsen geschliffen, was in der Folge zur Entwicklung der ersten «Brillen» führte.

Beryll: [...] wer durch ihn hindurchsieht, berührt zuvor Unsichtbares.
Nikolaus von Kues, de beryllo, 1446.

Kleio ist in der griechischen Mythologie die Göttin der Geschichtsschreibung und die Toch- ter von Göttervater Zeus und von Mnemosyne, Göttin des Gedächtnisses und der Erinnerung.

Eine Museumsutopie
Eine Vision von kleio ist das Online­Kunsthaus, das für alle zugänglich ist, als Künstlerin und als Besu­ cherin. Das ist eine Spielart mit überlieferten Vorstel­ lungen eines Museums. Aus den unterschiedlichen Einflüssen und Beiträgen entsteht – im Sinne einer gesellschaftlichen und kulturellen Gleichberechtigung – dieses offene und bewegliche Format; als neues Denkfeld, als Verhandlungsraum für Identität oder Zukunftsfragen.
Diese Plattform ist dynamisch und bewegt sich aus einer Vielzahl von Vergangenheiten in einen Ist­ Zustand (Präsens, Präsenz) und kann von dort wieder, als «Lichtblick im Kristall» eine Zukunft anregen, befruchten. Sie kann neue Mappings oder «Welten einer Vielheit» anzeigen, inspirieren; anthropologische Denkgebiete oder ­geografien, soziale Wünsche, politische und intellektuelle Kritiken usw. Arbeit am Fortschritt, Auslotung des Systems. Wir setzen
die Brille auf, welche unsere Optik auf die Geschichts­ schreibung von morgen schärft.

Ansammlungen, Wissensbestände
versus «Neues Denken»?

The Living Catalog beinhaltet als zusammengesetzter Begriff eine Ambivalenz. Ein Katalog ist eine abge­ schlossene, systematische Auswahl, als zeitresistente Faktendarstellung. Living wiederum deutet auf
das Ungewisse des Lebens hin, auf das Organische, das Denkende, Empfindende, Kontakt suchende usw. Sichtbare Werkkörper überleben ewig durch die Bezüge in ein Jetzt, das sich konstant wandelt.
So entsteht durch den «The Living Catalog» aus einem Dualismus ein Duett.
Wir (kleio) denken und konzipieren «The Living Catalog» als Bindeglied in der Befähigung von Künst­ lerinnen. Er wird von und aus der Basis genährt, von der Arbeit, welche die Mitglieder erfassen. Hier kommt Wissen zusammen, lebendig, als kollektive Dynamik
in Form kollektiver und instanzfreier Autor
innenschaft.
kleio fördert Dialog und Austausch zwischen Kunst­ schaffenden und Kunstschaffenden, als auch zwi­ schen Kunstschaffenden und Publikum. Diese Diffu­ sion ergänzt in einer Zeit sich wandelnder Medien
die Bedingungen von Kunstrezeption und Überlieferung. Durch das Kollektive entsteht «Sichtbarkeit»
und aus der Sichtbarkeit auch «Vermittelbarkeit» oder Teilhabe im Sinn von «witnessed presence», bezeugte Arbeit/Position, die sich durch Tools wie kleio und «The Living Catalog» organisch weiter verbinden und Lebendigkeit erlangen und dadurch «urbar» werden. Eine veröffentlichte Arbeit erhält ihre Gültigkeit durch eben diesen Schritt.
Katalogisierende und lexikalisierende Plattformen implizieren durch ihre Beschränkung resp. Rahmung auch eine zu treffende Auswahl, ein Aufnahme­ kriterium in das jeweilige «Format». Bei fast allen bestehenden Plattformen entsteht eine Art «Abhängig­ keit», weil die Verwaltung der Daten wie auch die Autorinnenschaft abgegeben werden, womit nicht länger in die Verwendung und Vermittlung einge­ griffen werden kann: Es wird eingeladen und erfasst. Ist die Plattform kunstwissenschaftlich geprägt, werden die Inhalte aus kunsthistorischer Sicht geprüft, oder ist sie – wie die grosse Online­Galerie artsy – marktgetrieben, werden die Kunstschaffenden ver­ traglich durch eine Galerie vertreten.
Eine weitere Abhängigkeit ist Zeit – als tickende Uhr. Vor allem in den sozialen Plattformen ist dieses Phänomen relevant, der Kampf um kurze Aufmerksam­ keiten, um Likes oder schnelle Kommentare treibt
die User
innen stetig weiter. Der Bild­ oder Kurztext­ Strom fliesst unaufhörlich weiter und sekundenalte Posts versinken durch ihre strenge Linearität im Dunst des Vorbeigezogenen, des Vergangenen.
kleio funktioniert als Radar und ist eine digitale, und in diesem Digitalen wieder eine «ur­demokratische», partizipative Plattform, bei der alle Kunstschaffenden willkommen sind, aus Metropolen wie auch aus Peripherien

z. B. Gettysburg Adress, Abraham Lincoln (1863): [...] and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth.

Bei kleio suchen wir hingegen die grösstmögliche Freiheit, Unabhängigkeit und eine Entschleunigung zur Steigerung der Aufmerksamkeit. Wenn Beschleuni­ gung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung (Hartmut Rosa, aus Resonanz, Eine Sozio­ logie der Weltbeziehung). Die eigene intrinsische Moti­ vation stellt die einzige Hürde zur Partizipation bei kleio dar.

Was bedeuten Vermittlung und Visibilität im Jetzt? Was bedeutet Digitalisierung und Professiona­ lisierung im Kunstbereich?
Mit kleio und «The Living Catalog» entsteht eine «duale» Vermittlung: Einerseits nach «Innen», indem Kunst­ schaffende mit kleio ihr Werk in ein neues Licht stellen und ein Werkverzeichnis anlegen indem Projekte, Ideen und abgeschlossene Werkprozesse einander befruchten. Andererseits ist die Vermittlung nach «aussen», welche über die Einträge und die zugeord­ neten Tags funktioniert und «instant» sichtbar wird
und durch die Sprachführung und Begriffssetzung mit anderen Werken oder Prozessdokumentationen in Verbindung tritt und Schnittmengen bildet. Im Hinblick auf den Kunstmarkt ist eine solche Aufarbeitung,
auch wenn sie vielleicht mühsam und zäh erscheint, ein wesentlicher Faktor für das Potenzial, in einen Markt einzutreten. Wie dies auch Hans Ulrich Obrist im Magazin N°13/2020 in seinem Artikel «Wann ist ein Werk ein Werk?» beschreibt.

Gerhard Richter ist durch seine sorgfältige und akribische Aufarbeitung und sprachliche Kategorisierung seines Schaffensuniversum aufgefallen. Schon früh begann er sein Werk konstant zu spiegeln und schaffte dadurch auch einen einmaligen Zugang in sein Lebens- werk – im Sinne von kleio ein Idealfall.
Realität ist viel eher, dass das Spiel des ver- gänglichen Lebens Nachlässe produziert, deren Aufarbeitung posthum viel Ressourcen, Mühen und Fragen bereit hält – so auch die eigene Erfahrung bei kleio, wo wir pro Jahr mehrere solche Nachlässe einpflegen. Niemals kommt man an das Verständnis und die Nähe eines Werkkörpers, wenn er durch Dritte bewäl- tigt werden muss (oder verlangt zu viele Ressourcen durch Forschungsarbeit, was bei einer künstlerischen «Mittelschicht» jedoch kaum realisiert wird).

kleio setzt mit dem Verzeichnis auf das Richter’sche Vorbild und will die intrinsische Motivation der User*innen, damit sie ihr Schaffen in einem ersten Schritt und einmalig erfassen, eine eigene Sprach­ führung entwickeln, sich so selber ins «Spiel» bringen. kleio setzt auf eine «Selbst­Jurierung». Die Eintritts­ frage lautete, hätten wir eine solche «Barriere»:
«Bist du bereit, dich mit deiner Arbeit vertieft ausein­ anderzusetzen? Bist du bereit für eine einmalige Aufarbeitung deiner Arbeit? Bist du bereit für den Blick durch den Kristall?

Verbinden heisst über Grenzen hinweg denken und konkretes Handeln zu befähigen. Individuell und kollektiv.
Zunehmend sind Projekte in Schnittstellen von Diszipli­ nen und Kulturen angesiedelt. Nivellierende Denk­ weisen, nationale Begrenzungen, Disziplintreue usw. lösen sich nicht ad hoc auf, aber werden hinterfragt und in den zu durchlaufenden Prozessen erörtert und entwickelt. Individuelle und kollektive Identitäten werden in dieser «ungewissen» Welt neu verhandelbar und bringen auch neue Ideen und Produkte hervor. Befähigung ist an dieser Stelle – unseres Erachtens – ein demokratischer Imperativ; jede Stimme zählt und trägt zum Gelingen des «Chors» bei. Bei kleio und «The Living Catalog» verstehen wir diese als Hand• lungsnotwendigkeit, als Auftrag, den wir an uns selbst stellen. Daraus entstand eine skalierbare «Online• Welt», die ermöglicht überall präsent und durch Kooperationen aktiv zu werden, vorerst und aus Grün• den beschränkter Ressourcen auf die Schweiz und die deutschsprachigen Länder fokussiert.

Also: Wer steigt ein und gestaltet «The Living Catalog» Brasilien mit? Shanghai oder Wallisellen?

Die Kunstwelt ist in Bewegung.
Über regionale und globale Entwicklungen wird viel berichtet. Durch die Reformen und Bewegungen
in der Hochschul­ und Fachhochschul­Landschaft werden seit ein paar Jahren viel mehr Bachelors und Masters in Richtung Kunstmarkt und Kunstver­ mittlung vorbereitet und nach Abschluss mit der Hoffnung entlassen, dass sie im «Markt» Fuss fassen können. Fazit: Der Kunstmarkt wird enger und es gibt immer mehr Künstlerinnen. Self­Empowerment und Selbst­Organisation sind hier vielleicht ein Schlüssel und möglicher Zugang zum Kunstbetrieb, womit Hürden überwunden und vorhandene Poten­ ziale genutzt werden könnten.
Wissen ist ein Grundstein des «Empowerments», der Bekräftigung, sich selbst gegenüber Kunst­ Interessenten darzustellen (seien es Kurator
innen, Sammlerinnen, Institutionen, Vereinigungen usw.) So entsteht mit der Zeit – so die Vision, auch ein neu strukturierter Markt, der massgeblich geprägt ist von der direkten Verbindung von «Produzentin» und «Konsument*in».

Werden wir direkter, offener, klarer und demokratischer?

Werden wir mutiger!

  • A Dan Cermak, From Frankenstein to Zombies, 2020
  • B Anina Schenker und Christoph Elias Meier, Die Wünsche sind schon Erinnerungen, 2020